Zwar bin ich kürzlich siebzig geworden - doch von Altersmilde kann keine Rede sein. Von einschlägiger Weisheit wohl auch nicht...
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, bin ich mit einem ungetrübt positiven Bild der Vereinigten Staaten aufgewachsen. Es war damals noch nicht lange her, dass die GIs die Welt vor Hitler gerettet hatten. Ich war ahnungslos, dass GI nicht gleich GI war: Schwarze Soldaten waren zum Sterben gut genug, aber sonst gegenüber Weissen minderwertig. Erst 1948 beseitigte Präsident Truman die Apartheid in den Streitkräften.
Nach 15 Jahren Amerika weiss ich, dass das Selbstverständnis der Amerikaner ein Lügengebilde ist: Einer mörderisch kolonialen, von christlicher Selbstgerechtigkeit durchtränkten Gesellschaft weisser Rassisten und Sklavenhalter gelang es, sich als globales Inbild von Freiheit und Menschenwürde zu inszenieren.
Dieser Mythos Amerikas als unbefleckter Bastion von Freiheit und Menschenwürde bleibt aufrecht – und im Land selbst unanfechtbar. Es waren die Verlierer, die Geschichte des Sezessionskrieges schrieben, die weissen Herrenmenschen der Südstaaten. Demnach drehte sich der Krieg um die Verteidigung der Rechte der Gliedstaaten gegenüber einer präpotenten Bundesregierung («States´ Rights»). Modern gesagt ging es laut dieser schrecklich erfolgreichen Geschichtsklitterung um Föderalismus und Subsidiarität.
«Government is the problem, not the solution», sagte Ronald Reagan 120 Jahre später. Für schwarze Ohren war seine Botschaft uralt und klar: Wir können nicht auf den Schutz der Bundesregierung zählen, wenn die Gliedstaaten ihren Rassismus ausleben. Diese Schönrederei liess Sklaverei und den Anspruch der Weissen, Herrenrasse zu sein, durch die Maschen eines fadenscheinigen Geschichtsbildes entgleiten: Es kam einer Rechtfertigung gleich.
Daher die aggressive Reaktion vieler Weisser auf Versuche, in den Schulen die eigene Geschichte unter die Lupe zu nehmen (unter dem unseligen Namen «critical race theory») – ein paar Lücken und Löcher zu stopfen, um im Bild zu bleiben. Dass die States’-Rights-Ideologie nur Vorwand ist, erklärt auch, warum die angeblich «Small-Government»-Republikaner nie das Budget-Defizit der Bundesregierung reduzieren, wenn sie in Washington an der Macht sind. Es geht ihnen nur darum, die Zentralmacht zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele zu vereinnahmen und jene von Andersdenkenden, -fühlenden und -ausschauenden zu sabotieren. Daher führt der von Republikanern gegängelte, angeblich zurück zu drängende Staat seine Tentakel eifrig in Schlafzimmer und Gebärmütter ein.
Die Ermordung von Präsident Lincoln hatte den Weg für die Rückkehr der unverändert rassistischen Südstaatler ins föderale Gefüge freigelegt, wo sie verhinderten, dass der Norden dem Süden den Willen des Siegers aufzwang. Den ehemaligen Sklaven waren 16 Hektaren Land und ein Maultier («forty acres and a mule») versprochen worden. Die Macht der Plantagenbesitzer und einstigen Sklavenhalter erwies sich jedoch als ungebrochen. Sie erhielten ihren Besitz (ohne die Sklaven) zurück. Jene Schwarzen, die bereits damit begonnen hatten, den Boden zu beackern, wurden vertrieben. Pech gehabt.
Ein weiteres Jahrhundert lang terrorisierten die Weissen die Schwarzen; Mord, Brandschatzung, Vertreibung, Unterdrückung, alles war erlaubt. Auch nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Amerika offiziell für Völker- und Menschenrechte sowie Demokratie focht, konnte ein Weisser in den Südstaaten einen Schwarzen massakrieren, ohne Gefahr zu laufen, dafür bestraft zu werden. Niedertracht und Brutalität der Rassisten waren grenzenlos. Erst in dieser säkularen Perspektive erhält der dümmlich klingende Slogan «Black lives matter» sein düsteres Gewicht.
Es wäre ein weites Feld für die Geschichtsschreibung, zu ergründen, wie die Rassisten ihre Haltung gegenüber Schwarzen zu rationalisieren und sich für gute Christen zu halten vermochten. Der Süden stilisierte sich als der humane und warmherzige Gegenpol zum angeblich rohen und dekadenten Kapitalismus der Yankees, wo Lohnsklaven ausgebeutet wurden. Die Soldaten des Südens waren sich gewiss, jeder von ihnen könne auf dem Schlachtfeld des Sezessionskriegs spielend ein halbes Dutzend schwachbrüstige Nordstaatler erlegen. Heute wirbt der Süden für sich mit Gastfreundschaft und Geniessertum. Zu recht, sagt der nichtsahnende Tourist.
Unsereiner erliegt gelegentlich dem Zauber der Worte. «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben...» Dieser Vers sticht alle religiösen Texte dieser Welt. «Der Fluch der bösen Tat» - ein anderes Wort, das ich als poetische Erkenntnis lese. Es haftet mir im Kopf, wenn ich an Amerika denke in der Nacht. Das Land wirkt, als würde es ausfransen.
Man greift sich an den Kopf und wundert sich: Warum kapieren nicht alle Amerikaner, dass in der Ukraine die Sicherheit der USA auf dem Spiel steht? Es passt ins apokalyptische Bild bornierter Christen, die in weltlichem Chaos den Vorschein der Wiederkunft des Messias erkennen wollen. Viele Amerikaner sind willens, die ur-amerikanischen Konzepte von «checks and balances» und «the rule of law» zu entsorgen. Christen geben sich unterdrückt, weil sie Andersdenkende nicht mehr fraglos benachteiligen oder verdammen können.
Bereits werden in gewissen Gliedstaaten - Florida ist führend - alle Arten Bücher aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Die Vorstellung ist nicht mehr abseitig, dass nächtens fackelschwenkende Faschisten um Haufen brennender Bücher herum tanzen. Und dies im Land, das sich für die globale Bastion der Freiheit hält. Die Schlussfolgerung ist unausweichlich, und zu belegen, so gut solche Dinge halbwegs unparteiisch zu erfassen sind: Ein grosser Teil der Leute will einen Führer, der sich über Institutionen und Gesetze hinweg setzt, um eigenmächtig zu regieren. Das Ziel liegt in der Vergangenheit, als alles noch gut und vertraut war, Amerika von Weissen dominiert und in der Welt gefürchtet. Dieser Führer wird von vielen als von Gott erwählt empfunden, weswegen es irrelevant ist, wie gut oder böse er als Person sei. Im Gegenteil, mieser Charakter wird zum Beweis dafür, dass Gottes Mittel seine Zwecke heiligen.
Wer sich in Christo wiedergeboren und als Herrenmensch wähnt, sieht Toleranz als sündige Komplizenschaft. Der Wahn wird verbreitet, Amerika sei erst erlöst, wenn es sich in der Verfassung als christliche Nation definiere.
Viele gläubige Amerikaner empfinden es als Fluch der bösen Tat, keine Theokratie geschaffen und das Land in der Verfassung nicht als «christlich» definiert zu haben. Aids war eine Strafe Gottes, und nun können Schwule und Lesben sogar heiraten und Kinder adoptieren...
Es wäre ein Tabubruch, zu argumentieren, der Fluch der bösen Tat sei es, die Widersprüche im eigenen Herkommen jahrhundertelang verdrängt zu haben. Der völkermörderische Umgang mit den Ureinwohnern ist im kollektiven Bewusstsein ad acta gelegt. Niemand auf der Seite der Täter stellte sich nach deren erzwungenen Abschaffung 250 Jahren legalisierter Sklaverei. Im Gegenteil, 100 Jahre lang entfesselten die Täter und deren Nachkommen ungestraften weissen Terrorismus sowie institutionalisierten, legalisierten Rassismus xxxx als vor 60 Jahren neue Bürgerrechtsgesetze erlassen wurden - gegen viel weissen Widerstand. Beschämend, dass derlei überhaupt notwendig war, hundert Jahre nach den Verfassungsänderungen als Folge des Bürgerkriegs. Diese hatten vergeblich gleiche Rechte unter Menschen dekretiert.
Es gehört zum Selbstverständnis, dass die Vereinigten Staaten sich so gottesfürchtig geben; jede Sitzung im Kongress beginnt mit einem amtlichen Gebet. Gleichzeitig ist Klimawandel für Millionen eine Schimäre, Hitzewellen und Überschwemmungen hin oder her. Laut Barack Obama glauben mehr Amerikaner an die Existenz von Engeln als daran, dass die Theorie der Evolution des Lebens bewiesen und bestätigt ist. Ohne geringste Beweise und entgegen Dutzenden von Gerichtsurteilen wähnen Dutzende von Millionen, Donald Trump habe 2020 die Wahlen gewonnen und Joe Biden sei ein illegitimer Präsident.
Auch Obama war für das gleiche Publikum ein Usurpator gewesen, da er doch, so wurde gelogen, in Kenya geboren war, nicht in den USA, ungeachtet der Geburtsurkunde aus Hawaii. Der Versuch, den ersten schwarzen Präsidenten zu diskreditieren bestätigte, dass sich seit dem Bürgerkrieg in Köpfen und Herzen Vieler wenig geändert hat: Für die weissen Südstaatler war es selbstverständlich, dass Schwarze nie Amerikaner sein konnten – ohnehin waren sie rechtlich gesehen Sachen, nicht Menschen. So befand es das Oberste Gericht 1857, kurz vor der Sezession der Südstaaten.
Thomas Jefferson – Sklavenhalter grossen Stils, Aufklärer, Rassist, genialer Verfasser von Texten über Freiheit und Tyrannei - verkörpert wie niemand sonst die ins Fundament der Vereinigten Staaten einzementierten Unverträglichkeiten. Wie andere Gründerfiguren – und Sklavenhalter – hoffte er, die Sklaverei würde sich zu Tode laufen, womit in Amerika Ideal und Wirklichkeit dereinst zusammen kämen. Gleichzeitig schrieb er, prophetisch:
“Deep rooted prejudices entertained by the whites; ten thousand recollections, by the blacks, of the injuries they have sustained; new provocations; the real distinctions which nature has made [...] will divide us into parties, and produce convulsions which will probably never end.”
Die Konvulsionen sind nicht vorüber. Wer nicht betet und nicht formelhaft huldigt: «America, the greatest nation on earth...», wird es in der hiesigen Politik nie zu etwas bringen. Die «original sin», Erbsünde Sklaverei, und deren Fluch werden zwanghaft verdrängt.
Tröstliches, erklärungsbedürftiges, bedenkenswürdiges Phänomen: Die Schwarzen sind genauso christlich und genauso patriotisch wie die Weissen.
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